„Saufhaus“ und andere Geschichten

aufgeschrieben von Karl F. Platzek

Nicht weit von der Grafschaft Ducherow, im Kreise Anklam, liegt das Schloss Dargibell. Eine Kleinbahn fährt dreimal in der Woche in dieses idyllische Fleckchen Erde hinaus. Weit dehnen sich die Felder. Der Blick schweift, wie an den Gestaden der Meeresküste, in unendliche Ferne und wird nur hin und wieder durch eine Kiefern- oder Birkengruppe aufgehalten. Irgendwo in der Landschaft erheben sich kleine Hügel. Hier sind kleine und größere Findlinge aus der Eiszeit bei der Bearbeitung des Bodens aus dem Acker hervorgeholt und zusammen gehäuft worden. In einem Kieferwäldchen unweit vom Landschloss und Dorfe Dargibell liegt ein riesiger Findling, um den sich manche Erzählung spinnt. Das Dorf selbst war früher von unwegsamen Gelände umgeben. Heute sind durch Bodenverbesserung überall fruchtbare Felder entstanden.

Auf diesem Boden spielte sich im 18. Jahrhundert folgende ergötzliche Geschichte ab, deren Helden der „Alte Fritz“ und ein Spross des berühmten Geschlechts Schwerin sind. Der damalige Führer der Pasewalker Kürassiere – ein Schwerin – war als trinkfester Haudegen bekannt. Sein Regiment liebte ihn wegen seines Draufgängertums und sein Offizierkorps schätzte ihn außerdem noch wegen seiner Trinkabende, die er für die Kameraden in Dargibell gab. Um ungestört im kleinen Kreise zechen zu können, hatte er auf einer kleinen Anhöhe ein Häuschen bauen lassen, das nur diesem besonderen Zwecke diente. Die Inneneinrichtung ist äußerst schlicht. In einer Ecke ist ein Kamin eingebaut, während eine andere ein Gläserbrett beherbergt. Um den langen Tisch stehen einfache Holzsessel, die dem im Tabakskollegium gebrauchten nachgebildet sind. Interessant ist der einzige Schmuck, den der sonst weißgetünchte Raum aufweist und der in Form einer Wandleiste gemalt ist. Das Grundmotiv der Verzierungen bilden Hakenkreuze, die miteinander verbunden sind. In der Rückwand führt eine Tür auf einen Altan, von dem der Blick weit ins Land hinaus reicht.

Wieder einmal war der tolle Schwerin mit seinen Offizieren zum „Saufhaus“ geritten und vergnügte sich beim Becherklang. Unglücklicherweise war der Alte Fritz auf einer Inspektionsreise und traf das Pasewalker Kürassierregiment ohne Kommandeur und ohne Offiziere an. Gewohnt, schnell zu handeln, eilte er nach Dargibell und fand hier eine fröhliche Zechgesellschaft. In seinem Zorn über den Leichtsinn und die Liederlichkeit des sonst tüchtigen Schwerins zerbrach er ihm den Degen. Schwerin nahm darauf seinen Abschied und zog sich auf das Landschloss Dargibell zurück, um seinen Kohl zu bauen und als Gutsherr zu leben.

Doch die Zeit ging weiter. Der Krieg kam ins Land, und der König brauchte tüchtige Soldaten. Er schickte nach Schwerin und bot ihm die Führung seines früheren Regiments an, mit dem Bemerken, ein Schwerin brauche zur Führung seines Regiments keinen zerbrochenen Degen, sondern er könne auch mit der Reitpeitsche kommandieren. Schwerin nahm an und kehrte zu den Kürassieren zurück. Seine Soldaten jubelten ihm zu, und bald zeigte es sich, dass der König keinen schlechten Entschluss gefasst hatte. Bei der Schlacht von Mollwitz1) holte Schwerin im entscheidenden Augenblick mit seinen Kürassieren den Sieg für den König. Nach der Schlacht kam der König bei der Besichtigung der Truppen zuerst zu den Pasewalker Kürassieren. Da konnte sich Schwerin nicht halten und richtete an den König die Worte: „Wat seggt nu Sine Majestät tau sine Süpers?“ (Säufer).

Der Alte Fritz grollte dem Schwerin schon lange nicht mehr, lobte ihn und bot ihm einen neuen Degen an. Doch der alte Haudegen und Zecher blieb bei seiner Reitpeitsche und führte damit seine Kürassiere zu weiteren Schlachten und Siegen.

In den Kasernen des Pasewalker Kürassierregiments befinden sich Aufzeichnungen und Bilder, die den alten Grafen2) mit der Reitpeitsche zeigen und auf diese Begebenheit zurückgehen.

Anmerkungen:

1) Die Schlacht bei Mollwitz fand bereits 1741 statt, 20 Jahre bevor Otto Martin von Schwerin 1761 das Gut Dargibell erwarb. Vermutlich meinte der Autor den Siebenjährigen Krieg (1756-1763).

2) Generalmajor Otto Martin von Schwerin (1701-1777) war kein Graf.

Text und Bilder von Luise Adams

Bild: Die Prinzessin von Dargibell Collage

So lässt Luise mal wieder alles zurück, einfach hinter sich. Wie so oft in ihrem Leben. Sie weiß nicht, was mit der Prinzessin in der Hütte passiert ist und das ist vielleicht auch gut so. Auffindbar war sie jedenfalls nicht. Nirgends. Sie hatte überall nach ihr gesucht. Und auf irgendeine Weise ist sie froh darüber, denn am Ende hatsie sie ganz schön angestrengt und zehrte ihre Kraft auf. Sie hatte sich anders entwickelt, als sie es sich gewünscht hatte. Die Situation war für sie ja auch noch viel schwieriger gewesen. Und diese Hütte, in der sie nun verweilte, da es ihr draußen nicht mehr gefiel; es gab zu wenig Licht dort für sie. Vielleicht, an einem anderen Ort, konnte sie sich nun wieder zu dem Wesen entwickeln, das sie einmal war.

So geht Luise langsam weiter, einen kleinen Weg am Hang des Berges entlang. Manche Stufe hinauf und auch manche bergab. Doch immer hält sie sich eng am Hang und in der Sicherheit des Berges auf. Es ist schlammig, da sehr viel Regen fiel in letzter Nacht. Doch zum Glück ist es nicht kalt. Luise findet immer wieder Kräuter und Beeren, die essbar sind. Ein Teich, an dem sie Rast machen kann. Ausruhen.
Und da sieht sie es aus der Ferne leuchten. Auf der linken Seite im Tal. Oder in Richtung Tal. Das Tal ist noch immer weit entfernt. Das Leuchten ist eine Weite, die sie schon lange nicht mehr sah. Der Beginn einer ovalen Ebene, weiter unten und auf der linken Seite vom Berg gelegen, wohin sich Luise nun vielleicht vom Hang aus bewegen kann. Sie sucht einen Weg hinab und findet sogleich einen sehr kleinen, nach unten führenden, durch Buschwerk und Sträucher sich schlängelnden Pfad. Immer wieder achtsam ihre Schritte setzend, um nirgends einen falschen Fleck Erde zu erwischen, auf dem sie immer noch in die Tiefe abrutschen könnte. Bis der Weg breiter wird und sie Stück für Stück dem Leuchten näher führt. Es scheint ein altes, schlossähnliches Gemäuer zu sein, nahe am Hang gelegen und doch nicht am Hang, welches angeleuchtet wird und auch wie von Innen leuchtet. In tausenden von schillernden und bunten Farben. Mal dominieren die blauen Töne, mal die rosafarbigen und mal golden und silbern.
Der sandige Weg wird immer breiter bis er in eine Straße mündet und diese führt immer weiter heran zu dem verborgenen Anwesen. Während Luise sich nähert, nimmt das Leuchten ab. Dann, auf der linken Seite, eröffnet sich plötzlich ein riesiges Tor. Ein Tor, welches merkwürdig und doch wunderschön verziert ist:
Es ist ein dreifaches Gerüst in den steinernen Torbogen eingelassen. Rosen umranken bogenartig von außen den Torbogen und schlängeln sich an einigen Orten auch um Bogen und Gerüst. In das Gerüst sind kleine Vierecke und Rechtecke eingelassen. Es sind kleine, kachelartige Mosaiksteinchen. Luise erkennt drei Motive: eine blaue Schnecke, oder so scheint es, ein blaues Bild wie der Himmel … leuchtend, obwohl so klein, und: ein kleines Gold, das glitzert. Diese drei kleinen Mosaike sind wie Ornamente in das Gerüst eingelassen, mal als Vierecke und manchmal auch als Rechtecke, doch nicht überall. Manches kleine Viereck ist leer geblieben und die Rosen wachsen über all das. Oder eher: mit alledem.

Luise geht langsam durch das Tor und dann: ist es, als wenn all das Licht wieder angeht, welches sie von Weitem leuchten sah. Das Tor und das Mauerwerk mit Büschen an der Straße hatten den Blick immer mehr versperrt auf das Anwesen, das nun seiner Verborgenheit gänzlich entrissen ist: Ein riesiges und weitläufiges, mit Sandstein gemauertes Anwesen mit mehreren Gebäuden. Einige renoviert, andere etwas verkommen. Der vordere Teil sieht etwas baufällig aus.
Ein riesiger Park gegenüber, mit Lichtblicken dazwischen. Und auf der rechten Seite, von dort kam das Leuchten, das alte Gemäuer. Und: davor eine Terrasse und ein langer Tisch mit Lampen und Lampions verziert, verrückten Stühlen, auf denen niemand sitzt. Es ist nicht genau zu sehen, doch ja: alle Stühle sind leer. Und auffällig: die wunderschönen Fenster und Türen. Aus Holz: mit wundervollen Ornamenten verziert.
Lichter stehen überall herum. Glasbehälter mit Kerzen. Einige flackern. Dann: sieht sie in weiter Ferne auf der linken Seite ein großes Gemälde, gespannt wie eine Art Spinnennetz zwischen den Bäumen, die dort vereinzelt vom Park herauslaufen. Glitzerfäden scheinen das Gemälde zu durchziehen, wie eine Art Ozean auf Glitzerfäden gespannt. Sie funkeln in dem Licht, welches von dem Gebäude herüber scheint. So scheint es zumindest, aber vielleicht leuchten sie auch von selber. Wie die kleinen Irrlichter, die Luise kennt.

Sie wendet den Blick wieder zum Gebäude hin und sieht: die kleinen Lichter führen hinein in den sehr alten Teil des Gemäuers, der fast ein wenig zusammenzufallen scheint. So lässt sie Tisch und Stühle hinter sich und geht hinein. In diesen Teil. Es ist ein Gang, der, beleuchtet von Kerzen, weiterführt und dann: in einen Raum mündet, der auch von Kerzenlicht erleuchtet ist. Größer die Gläser jetzt und auf ein Bild scheint auch gedämpftes Lampenlicht. Nein, im Grunde auf zwei Bilder, doch das zweite Bild hängt eher etwas im Schatten.
Sie geht näher und sieht die Gemälde, wie sie dort an der Wand hängen. Es ist trotz all dem Licht noch dunkel, erinnert sie an vergangene Zeiten. Ein Gesicht scheint wie eine Wesenheit hindurchzusehen, durch das eine Bild. Aus vielerlei Gerümpel auf das Bild in Farben drauf gekleckst. Verschoben die Augen und: ja: fast ein wenig unheimlich der Blick. Eine etwas traurige, und doch weise anzuschauende Wesenheit.
Außen: liebevolle Zeichen und Ornamente um diese Wesenheit herum. In Öl gemalt. Offene Schnecken. Zeichen. Es scheinen Ornamente zu sein, weiß, rot, blau, sorgsam hingekleckst, verzierend. Es erinnert sie an nordische Elemente. Der Blick und das Gesicht irgendwie von der Welt verdeckt. Zugedeckt. Es ist, als hätte sie dieses Bild schon einmal gesehen, doch sie erinnert sich nicht mehr daran.
Das andere Bild: in gleicher Größe und daneben angebracht. Es ist wie ein grünlicher Ozean. Mit einem Wasserfleck unten rechts und: einem hoffnungsvollen hellen Horizont. Doch insgesamt überwiegt diese etwas düster anmutende grünliche Farbe des Wassers. Mit Ocker durchzogen. Wie eine Sonne, die vergaß, es aufzuhellen. Und links an der Seite: wie ein Gesicht. Den Blick wie aus einem Baum heraus auf diese grünliche Suppe gerichtet. Entfernt kommt Luise auch dieses Bild bekannt vor. Vielleicht von Umweltschützern gemalt.

Und zwischen den Bildern ein kleines Rosenbouquet mit Schleierblumen drumherum. Eine wunderschöne Rose schaut heraus aus diesen kleinen weißen Blumen, am Rand wie von einem großen Rosenast eingebunden. Im Kreis herumgedreht. Diese eine Rose schaut hinaus aus diesen winzigen und luftigen kleinen weißen Blüten. Einer der Zweige hatte sich gelöst und ragt einmal durch das Bouquet hindurch. Eine große Kerze im Glas steht davor.
Dann wendet Luise den Blick nach links und sieht, dass das Wasser heruntertropft auf dieser Seite. Es istruinenhaft hier und dunkel. Fast wie finster anmutend trotz all der Lichter. Sie tritt zurück und schaut noch einmal diese Bilder an, – trotz allem Düsteren in ihnen: auch liebevoll gemalt, ein Riss zeigt sich in dem einen Bild und auch er ist liebevoll zusammen geflickt – bevor sie durch ein kleines Tor weiter geht in den nächsten Raum. Die Kerzen führen wie kleine Irrlichter weiter.

Als sie dort hindurch kommt, sieht sie einen lichten hell erleuchteten Raum. Hier scheint es schon gänzlich renoviert zu sein. Ein kristallener Kerzenleuchter hängt von der Decke herab. Golden eingefasste, glitzernde und funkelnde, in Kristallglas eingelassene Lichter. Hier scheint das Gebäude einem Schloss fast gleich zu sein. Gedämpft das Licht und doch … hell. Und dann schaut sie nach links und wird ergriffen von dem Bild einer schönen Fee. Ein Gemälde, welches zentral an dieser einen Wand hängt. Golden eingefasst in einem großen Rahmen und: ein noch größerer Rahmen um all das herum rankend. Ein Rahmen, der ein Drittel der gesamten Wand ausmacht und dieser Fee somit einen fast unendlich anmutenden Raum verschafft. Und doch: begrenzt. In Gold.
Und aus diesem Bild schaut die Fee herab in den Raum. Ein offener und glücklicher Blick, ein Kleid aus Blumen. Braun und rot in den Farben. Geheimnisvoll. Die feenhafte Prinzessin wunderschön und doch mutig und wie beherzt. Das ovale Gesicht von blonden Haaren gefasst. Wie ein weiterer goldener Rahmen. Ihr Blick bezaubernd. Mutig und frei scheint sie. Wie leuchtend ihr ebenmäßiges Gesicht. Und es scheint etwas wie Demut dabei zu sein. Weich und mitfühlend. Luise ist wirklich ergriffen. Steht lange und schaut sie an. Es ist, als könnte diese feenhafte Prinzessin herabsteigen aus dem Bild und neben sie treten, so wunderbar gemalt. Es müssen Holländer gewesen sein.
Und dann sieht sie das Rosenbouquet unter diesem Bild: eine dunkle und doch leuchtende Rose, schön und ebenmäßig, dem Gesicht dieses Mädchen gleichend. Umgeben von so vielen anderen kleinen Rosen. Auch Schleierkraut dabei, jedoch verdecken diese kleinen weißen, fast durchsichtig scheinenden Blumen nichts von der Schönheit der Rosen. Die Rosen sind wie frei daneben. Frei und engelhaft, wie die Prinzessin selbst. Am Rand des Bildes steht ein riesengroßer Leuchter und es ist diese große altweiße Kerze auch, die dem Bild sein Leben erleuchtet. Aber wenn sie ausginge, so würde es scheinbar von selbst in alle Ewigkeit leuchten.
Es sind noch mehr Kerzen im Raum verteilt. Dazu zwei Fenster, auch mit diesen geschwungenen ornamentverzierten Rahmen. Alles wie hergerichtet für sie. Die Herrin dieses Raumes und der Welt in diesem Raum. Die Wände geweißt, wie matt. Damit der Glanz der Prinzessin besser scheinen kann. Dann setzt sich Luise auf einen kleinen Stuhl, aus Holz auch, in einiger Entfernung und verweilt eine Weile bei ihr. Hier kannman ausruhen. Eine ruhige Stille findet sich ein. Engelhafter Frieden der Ewigkeit ist hier zuhause. Wie golden scheinendes Licht, ausgehend von diesem so anmutig gemaltem Gesicht. Ohne irgendein Gold – außer das Gold des Leuchters. Und vielleicht dieses kleine Gold der Mosaiken. Luise verweilt hier und weiß nicht wie lange, da hört sie zauberhafte Musik von draußen wie hereinwehen durch die vordere verschlossene Tür.
Vielleicht wird sie sie ja noch treffen. Dieses zauberhafte Wesen. Irgendwo. Hier oder in der Ewigkeit. Da sieht sie ein kleines Namensschild. Zwei Namen. Nana Nastasia. Das … scheint der Name dieses Mädchens zu sein. Ein Schild von kleinen goldenen Ornamenten eingefasst. Winzig klein. Kein Name kann sie einfangen.

Es scheinen Stunden vergangen zu sein, da steht Luise auf und tritt wieder hinaus in die Welt. Aus der hinteren Tür heraus. Sehr schlicht in Holz gefasst. Und da sieht sie es wieder, diesmal aus der Nähe: dieses funkelnde, spinnennetzartige Tuch. Gespannt auf glitzerfarbenen Stoff. Wie leuchtend von sich heraus auch: ein blauer Ozean, der am Horizont vom Himmel nicht zu trennen ist. Wolkig an einigen Stellen und ein wenig wie dunstig. In der Ferne das Weiß des Horizontes schimmernd. Weißlich helles Blau. Und von links da scheint ein engelhaftes Gold zu leuchten. Wie golden schimmernd. Von unten angestrahlt, doch im Grunde: leuchtet es von selbst. Wieder mutet es an, als wenn tausende von Irrlichtern dieses Bild bewohnen, seinem hellen Blau das Leben einhauchend. Und doch: funkelnd in allen Farben durch die kleinen Irrlichter auf dem Stoff.

Dann sieht sie auf der anderen Seite noch ein Gebäude, welches noch nicht in voller Gänze wieder hergerichtet zu sein scheint. Und wieder, wie Mosaike, doch größer dieses Mal, diese drei Ornamente auf einem Gerüst eingelassen. Ein Baugerüst dieses Mal. Die Schnecke, das Blau, und das kleine Gold. Vierecke sind es dieses Mal. Aus Holz scheinen sie zu sein. Oder Metall. Kachelartig wie acht Kacheln zusammen groß. Davon zählt Luise genau neun. Drei von jedem Ornament. Auch sie sind matt, wie die Wände im Prinzessinnenraum. Sie scheinen das Gebäude fast zu schützen. Vielleicht ist es ein Baugerüst, welches einfach geblieben ist, denn: das Gebäude sieht wunderschön auch aus mit seinen Holzfenstern und einer schlichten Tür aus eben diesem Holz. Viereckig ist dieses Gebäude fast. Auch das erinnert Luise an etwas aus fernen Zeiten. Sie schaut in das eine Fenster herein: eine kleine Küche. Töpfe auf einem steinernen Ofen, als hätten gerade noch Leute hier gekocht. Doch bisher hat sie niemanden gesehen.
Da hört sie wieder diese Musik aus der Ferne. Schlicht und leise und minimalistisch. Als sie sich umwendet, da sieht sie ganz hinten im Park etwas leuchten auch. Wie große Strahler auf eine Art Holzbühne gerichtet. Mehr kann sie von hier nicht erkennen. Ansonsten liegt die Welt wie im Schatten verborgen. Inzwischen ist es gänzlich Nacht geworden.
Luise geht an Tischen und Bänken vorbei, hinüber um zu schauen, was da vor sich geht. Deshalb niemand hier. Wo sie bis jetzt verweilte. Ein kleiner Weg durch den imposanten schlichten Park führt hinüber. Ein wenig schlängelnd hindurch durch die große Baumlandschaft. Immer in Ferne leuchtend diese Art Bühne wohl.
Als sie sich nähert hört sie die Musik besser. Immer noch leise, wie in Stille eingefasst. Vor der Bühne nun erkennt sie auch die Menschen. Sitzend. Stehend ans Geländer gelehnt. Still. Wie andächtig zuschauend dem, was auf der Bühne auf Holzbalken gebaut vor sich geht. Ein wenig wie auf Watt gebaut, dunkel das Holz. Dann endlich sind auch die Tänzer:innen zu sehen. Schwarz gekleidet und schlicht überqueren sie die Bühne. Gehend. Laufend. Einige schlendernd.
Sie bleibt etwas am Rande stehen und beobachtet das Schauspiel. Dann: immer wieder Gruppen durch diese Landschaft auf der Bühne ziehend. Sie scheinen wie zu verschwinden am Rand. Dann zwei Tänzerinnen. Einige der anderen Figuren am Rand, alle ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen schenkend. Eine Art fließende Welt.
Und die zwei: eine schwarz gekleidete Figur und eine zauberhafte Tänzerin, in rosafarbenem Tüll, wie aus Schleier der rosa Tanzanzug umrankt und: Spitzenschuhe. Glänzend an den Füßen. Ein rosafarbenes auch glänzendes Band an einem weißen Stock in den Händen. Und dieses lässt sie Spiralen tanzen. Wellen des Meeres lässt sie auferstehen. Dreht sich selbst dazu. Auch dies erinnert Luise an etwas aus ihrer Vergangenheit. Als hätte sie es schon einmal gesehen: Das Stück.
Und immer wieder die schwarze Gestalt. Auch tanzend sich drehend laufend. Auf der Erde, dem Holz. Dann: Alle Aufmerksamkeit wieder nur auf sie gerichtet und sie dreht und tanzt ein letztes Mal zur Musik mit ihrem leuchtend drehenden Band, wie ein Wasserfall manchmal.

Da hören alle ein lautes Tösen in der Ferne. Immer dichter kommend: es ist ein Hubschrauber mit einem Trapez. Er nähert sich während die Tänzerin unermüdlich sich dreht und Pirouetten entstehen lässt, niemals dem Band vergisst Leben einzuhauchen und dann: sieht Luise das Trapez.
Die schwarze Gestalt verlässt währenddessen lautlos die Bühne. Da lässt die Tänzerin das Band wie eine Welle auf den Boden nieder gleiten, erhebt sich und erfasst mit ihrer linken Hand das Trapez. Hält sich fest und lässt sich emporheben vom Hubschrauber. Immer weiter in die Lüfte, vorbei an dem spinnennetzartigen, wie durchsichtig scheinendem Stoff, und: sie hakt einen Schuh hinein. Das Netz springt ab von den Bäumen und sie zieht es am Fuß herauf zu sich. Ergreift es mit der rechten Hand und so schweben Hubschrauber mit Tänzerin und Netz in die ewigliche Ferne.
Die schwarze Figur geht noch ein paarmal auf der Bühne hin und her. Setzt sich an den Rand und schaut dem Hubschrauber verschwindend hinterher. Luise, die sich an einen Baum angelehnt hat, dreht sich um und geht zügig zum Tor zurück. Dort waren also alle Menschen. Als sei sie Teil des Schauspiels geht sie schnell und doch unauffällig zum Tor, hört noch den tösenden Beifall des Publikums, als auch schon das Tor hinter ihr zufällt. Alles Licht erloschen nun.

Sie geht weiter nun und folgt der Straße in Richtung Tal und ist in einiger Ferne schon, als sie wieder die Drohnen hört. Auch aus der Ferne kommend, doch nichts Gutes verheißend. Sie hört es Krachen und kauert sich hin. Keine Ahnung hat sie, woher die Drohnen wieder kamen und was nun dort passiert ist. Rauch steigt auf und Sirenen der Feuerwehr sind in weiter Ferne zu hören.
Wohl wissend, dass sie weiter gehen muss, beschleunigt sie ihren Schritt. Immer weiter fort den Weg. Die Tänzerin ist davon geschwebt. Und was aus dem Schloss mit Bewohnern und Zuschauern geworden ist, das würde sie sicher noch erfahren. Die Welt ist unberechenbar. Sie hält Rast an verschiedenen Orten. Durchschreitet viele Orte und Zeiten, bis sie sich am Meer wiederfindet.

An einem kleinen runden Tisch direkt am Ufer an der Promenade. Dort findet sie einen Augenblick Ruhe unter den Menschen. Trinkt einen Milchkaffee und holt sich eine Zeitung, die im Café ausliegt. Aufgehängt an einem kleinen Ständer, wie auf einen Stock gezogen. Sie blättert nur kurz und schon kann sie die Nachricht finden: über das Schloss und den Drohnenangriff von Dargibell. So heißt also das Schloss, auf dem sie war.
Ein Teil soll zerstört worden sein, vollständig den Trümmern gleich gemacht, doch zum Glück nur der sehr ruinenhafte und verkommene Teil. Niemand wurde verletzt. Die Flammen konnten rechtzeitig gelöscht werden. Sogar der Park blieb weitgehend verschont. Es war ein zeitgenössisches Tanztheater, was dort stattfand.
Der Prinzessinnenraum war gänzlich unversehrt geblieben. Sogar der Kronleuchter hing an seinem Platz. Ein Schaukelpferd wurde noch erwähnt, bunt bemalt, doch das hatte Luise nicht gesehen.
Auch stand dort: dass die Prinzessin weit bekannt war für ihre Güte vor allem. Und dass: die Dorfbewohner noch heute sie manchmal über das Feld laufen sehen. In rosa Shirt und blauem Schottenrock. Einen gelben Blumenkranz auf dem blonden Haar. Eine blaue, knielange Strumpfhose dazu, goldene Blumen in der Hand geflochten wie ein Band. Alle wussten, dass es in ihrer aller Herzen war. Dieses Bild, welches sie so oft sahen. Im Sommer. Wenn sie durch die Felder schweifte. Sie war bekannt für ihren Mut. Rettete kleine Käfer am Straßenrand und spielte gern mit den Mädchen und Jungen des Dorfes. Alle erinnerten sich gern an sie. Sie ist wohl hinweg geflogen zu den Engeln, wie die Tänzerin.

So liest Luise in der Zeitung, als ein Trupp Motorräder auftaucht und sie abholt in der Bar: sie hat ihren Termin vergessen. Eine Rolle selbst zu spielen auf der Bühne dieser Stadt, deren Text sie zwar kennt und schon einmal gespielt hatte, das weiß sie. Doch wieder kennt sie ihren Text nicht genau. Das… weiß sie auch. Sie würde ihn erinnern. Wie jedes Mal bisher.
So fährt sie weiter, froh im Herzen, dass das Schloss, wenn auch in weiter Ferne nun, weiter bestehen würde in der Welt …

Und ja, es ist ihr Wunsch, eines Tages wieder das kleine Staubkorn zu sein, dass nicht auf die nächste Bühne fliegt, sondern nach Hause. The little dust. Going home. Zu den Engeln, lichtvoll und frei. Dorthin, wo ihr Zuhause ist.

Für Pola und die geliebte Nana.